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„Let it be“ II: Entgifte dein Sein.

Immer, wenn wir etwas wollen, ist unser Geist in Aufruhr.

Wir können, ganz ohne gierig zu wirken, etwas wollen, den ganzen Tag lang, weil es Gewohnheiten sind, die zu Bequemlichkeiten wurden. Es ist aber auch möglich, dass hin und wieder der „Gollum“ aus uns herausbricht und einfordert: „MEIN Schatz!“

In beiden dieser Versionen ist unser Geist aufgewühlt. Anstatt wie das ruhige, unbewegte, tiefe und klare Wasser eines Teichs zu sein, ist der Geist im Wollen in Aufruhr, so, wie der Schlamm des Teichs aufgewühlt, das Wasser trüb statt klar sein kann.

 

Es ist ist die Natur des Menschen, im Außen, in der materiellen Welt nach etwas zu streben, etwas haben, etwas erreichen zu wollen. Vielleicht gehört dieses Bestreben zu unserem inneren Drang zu überleben und zu evolutionären Veränderungen.

 

Aus der yogaphilosophischen Sicht ist gerade das „Üben des Nichtwollens“ ein wichtiger Bestandteil unserer spirituellen Entwicklung. Im Artikel „Die schwierigste Übung: Let it be.“ habe ich bereits erklärt, dass dieses Nichtwollen, Nichtanhaften im Yogasutra des Patanjali als vairagya bezeichnet wird und seine Auswirkungen auf uns Menschen – ob Yogi oder Nichtyogi – beschrieben.

Um das zusammenzufassen: Die bedeutendste Auswirkung, wenn wir bestimmte Dinge, Menschen, Zustände haben wollen, greift es unsere Identität stark an, wenn wir sie nicht haben können oder verlieren. Wir haben unsere Identität an Vergängliches gebunden. Und so fürchtet unser Ego zu sterben (manchmal ein bisschen, manchmal dramatisch), wenn wir unser Begehr nicht bekommen oder eben nicht mehr haben. Und das – wie der Mönch Matthieu Ricard so sehr auf den Punkt brachte – macht uns verletzbar und schwach.

 

In der Umkehr: Wenn wir nicht anhaften, an was auch immer, sind wir frei, innerlich stark und mit unserem Wahren Selbst verbunden, der unsterblichen Seele, die wir sind.

Zu üben, immer wieder loszulassen, hat einen entgiftenden Effekt für Körper, Geist und Seele.

 

Hier kommen nun einige praktische Vorschläge zur Umsetzung von vairagya:

  • Nachdem wir dem Sutra 1.34 gefolgt sind und einige Male langsam und vollständig ausgeatmet haben, beruhigt sich der Geist zunächst und wird vom Außen ins Innen gelenkt. Und dann...
  • … Im Yogasutra 1.36 schlägt Patanjali vor: „viśokā vā jyotiṣmatī“. Unsere wahre Natur wird durch die Regungen des Geistes ins Ungleichgewicht gebracht. Um dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, können wir uns auf unser inneres Licht besinnen, das unberührt ist von Leid. Wenn wir auf dieses Licht meditieren, bekommen wir bald eine Ahnung davon, was in uns Unsterblich ist und so rücken die „Haben-wollen-Objekte“ im Außen in die Ferne.

  • Wir können außerdem üben, gleichmütig gegenüber Menschen zu sein, deren Handlungen unseren eigenen Werten entgegengesetzt sind. Wir verbessern und belehren also nicht und gehen nicht auf die Energie des anderen ein. Eine hohe Kunst!

  • Wir können aber auch ganz bewusst in der Materie verzicht üben. Das nennt man auch Fasten. Man kann Essen fasten – das ist das bekannteste. Dazu gibt es viele, viele Ideen und Möglichkeiten. Vom Verzicht auf Süßigkeiten bis zum nur Suppe und Wasser trinken. Wichtig dabei ist, sich einen Zeitraum festzulegen und sich für etwas zu entscheiden, das machbar ist, aber auch wirklich an der Komfortzone kratzt.

    Dabei kommt wieder abhyasa ins Spiel – das beharrliche Üben, die Disziplin.

  • Für manch einen vielleicht weitaus schwieriger: Handy fasten. Oder Mails fasten. Oft ist das nicht möglich, weil wir für den Job, die Familie erreichbar sein müssen. Doch man könnte aufhören, 234 mal am Tag einfach so nachzuschauen, ob was reingekommen ist, es so oft wie möglich zu Hause lassen und im Urlaub das Mobiltelefon mit Hingabe vernachlässigen.

  • TV fasten. Kein Streaming, keine kurzen youtube-Videos, keine Filme. Das Nervensystem wird sich freuen. Unser Hirn macht keinen Unterschied, ob wir einen Film anschauen oder etwas selbst erleben, die Nervenzellen reagieren. Urlaub für die Nervenzellen.

  • Shoppen fasten. Für ein Jahr. Nur, was kaputt gegangen und wirklich nachgekauft werden muss, ist erlaubt.

  • Worte fasten. Ein tibetisches Gebot lautet, auf unnützes Gerede zu verzichten. Kein Smalltalk, keine leeren Inhalte. Eine absolute Wohltat für die eigene Konzentration und den Fokus.

  • Negativität fasten. Benötigt sehr viel Achtsamkeit und sicherlich schlüpft auch der ein oder andere negative Gedanke durch. Negative Sprache wird dann schon auffälliger. Dadurch kann man den eigenen negativen Geist entgiften und ihn wieder ins Lot bringen. Grundsätzlich ist an negativen Gedanken nichts auszusetzen – so lange sie dazu da sind, um uns zu schützen. Sobald sie aber übergehen in Selbstniedermachen und negative Rede, anstatt wirklich etwas aktiv gegen den negativen Zustand zu tun, ist der negative Geist aus der Balance.

Es gibt so viele Möglichkeiten, wie es Gewohnheiten und Abhängigkeiten gibt. Daraus kann jeder frei wählen.

 

Grundsätzlich wäre es absurd, bei einer Übung des Loslassens und des Nichtwollens zu fragen, was wir dafür bekommen. Dennoch ein kleiner Ansporn:

Unser Verlangen ist auch hormonell gesteuert. Ob Adrenalin, Dopamin, Endorphine oder Serotonin, auf das, was wir wollen, reagiert unsere Biochemie. Wir streben nach Glück und Vitalität – beides bekommen wir durch diese Hormonausschüttungen. Fasten bedeutet, diese Prozesse im Körper zu unterbinden. Gar nicht so leicht. Aber machbar. Und wir können uns bewusst steuern, anstatt von der Biochemie gesteuert zu werden.

 

Wenn wir fasten, auf welche Art auch immer, entgiften wir unsere Persönlichkeit. Über Jahre nimmt man Gewohnheiten an, ohne sie in Frage zu stellen. Aber eigentlich, so denken wir, sind wir das gar nicht. Haben aber weder Zeit noch Energie, uns damit auseinanderzusetzen. Wenn wir diese Zeit und Energie jedoch investieren, bekommen wir durchaus mehr Zeit zurück – Angewohnheiten kosten Zeit, Energie, Geld. Wir legen Schichten ab, die unser Wahres Selbst verbergen, die Identitätsanker, wie ich sie nenne. Sie sind nicht wirklich unsere Identität. Was sie ist, wissen wir ein wenig mehr, wenn wir uns in Loslassen und Hingabe üben. Vairagya. Let it be.

 

Wenn die mit uns selbst verabredete Fastenzeit vorbei ist, können wir noch einmal neu auf uns und unsere Gewohnheiten blicken. Überlegen, ob ich das, was ich für einen, zehn oder 365 Tage habe sein lassen können, wieder in mein Leben lassen will. Ist das eine gute Angewohnheit? Macht sie mich wirklich glücklich? Oder ist sie ein Ersatz? Wofür?

 

Dann kann man Ausschau halten nach Handlungen, die dieselben Hormonausschüttungen bringen: Laufen, Atmen, anderen helfen, die eigene Präsenz in der Stille genießen (Meditation) sind Möglichkeiten für neue Angewohnheiten, die ebenfalls Glück und Vitalität bringen, ohne dabei in die Abhängigkeit zu gehen.

 

„Rühre an das Leere in deinem Leben, und dort werden Blumen blühen.“

(aus dem Zen-Buddhismus)