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Die schwierigste Übung: „Let it be.“

Paul McCartney erzählte einmal, wie es zum Beatles-Song „Let it be“ kam.

Er war in einer schwierigen Phase seines Lebens, mitten im Party- und Drogenrausch, ein Konzert folgte auf das andere, sodass er langsam ausbrannte. Zudem bemerkte Paul McCartney, dass die Band dabei war auseinanderzubrechen und war ratlos, was man tun könnte, um das zu verhindern. In einer halbwegs schlaflosen Nacht hatte er einen Traum, in dem ihm seine vor vielen Jahren verstorbene Mutter erschien, die ihm sagte: „Lass es einfach sein, Paul. Es wird schon alles gut werden. Lass los.“ Als Paul McCartney erwachte, schrieb er den Song.

 

When I find myself in times of trouble, Mother Mary comes to me

Speaking words of wisdom, “let it be”

And in my hour of darkness, she is standing right in front of me

Speaking words of wisdom, “let it be”

 

And when the brokenhearted people living in the world agree

There will be an answer, “let it be

 For though they may be parted, there is still a chance that they will see

 There will be an answer, “let it be“

 …

 

„Speaking words of wisdom: Let it be.“ - nicht selten ist wahrhaftig das weiseste Verhalten, etwas so sein zu lassen, wie es ist, etwas loszulassen oder ruhen zu lassen.

So weise – und so schwierig.

In der Yogaphilosophie nennen wir das vairagya: das asketische, leidenschaftslose Desinteresse, netter ausgedrückt: das Nichtanhaften. Loslassen, falls wir schon anhaften.

 

Woran?

Das kann absolut alles sein.

Alles, was wir unbedingt wollen oder nicht wollen, gehört in die Kategorie Anhaftung. An Dingen, die ich unbedingt kaufen muss, an einer Person, die ich liebe und zurückgeliebt werden will, an Essen, an meinem Körper, an Rechthabenwollen, an meinem Job, meiner Gesundheit, an Krankheit, an Wissen, Ängsten, Plänen, an Vorstellungen davon, wie ich selbst und andere sein und leben sollten, an Yoga...

 

Oft merken wir diese Anhaftungen nicht einmal, weil sie so normal für uns geworden, eine Gewohnheit sind.

Um sich selbst zu verstehen, kann man sich fragen: „Kann ich das sein lassen?“

Wenn nicht, dann haben wir unsere Identität von dieser Sache, Person oder diesem Zustand abhängig gemacht.

Hmmmmmm. Ganz dünnes Eis.

Denn die Yogaphilosphie lehrt uns, auf die Frage „Wer bin ich?“ zu antworten mit „Neti neti: Nicht dies, nicht das. Nicht mein Körper, nicht mein Geist, nicht meine Gefühle, nicht meine Energie.“

„Also, wer bin ich dann?“ - „So Ham. Das wahre Selbst“.

Das wahre, reine Selbst muss sich nicht erklären, nicht beschreiben.

Es ist nicht: „Hallo, ich bin Nina, Yogalehrerin, Heilerin, Coach, Kölnerin, Ehefrau, Freundin, Tochter, Schwester, Frau, 40 Jahre alt.“ Das reine Selbst sagt: „Hallo. Ich bin (da).“

 

Wenn wir nicht „let it be“ können, sind wir also nicht im „So Ham“-Zustand. Dann entfernen wir uns vom reinen Selbst, von der puren reinen Seele, die wir scheinbar unser ganzes Leben lang suchen, uns selbst suchen, wo wir doch die ganze Zeit da sind, nur begraben und versteckt unter all den Anhaftungen.

 Je mehr wir von diesem Zustand des reinen Seins entfernt sind und unsere Identität durch Äußeres, Hab und Gut, Menschen, Errungenschaften, Fähigkeiten, unseren Job usw. definieren, sogar rechtfertigen, desto mehr haften wir an.

 

Diese Seins-Ebene wird auch gerne als Ego bezeichnet.

Das Ego ist nicht allgemein ein hinderliches Übel, das uns von unserer Erleuchtung abhält. Es ist sehr hilfreich, um ins Handeln zu kommen, um uns bestimmte Vorhaben erreichen zu lassen, Erfahrungen zu machen. Nimmt das Ego aber dauerhaft das Ruder in die Hand, leben wir nicht das Leben unseres wahren Selbst. Wir werden von äußeren Beifallsbekundungen abhängig (facebook – likes, follower) und versuchen, uns und unseren Willen gegen den anderer durchzusetzen. Das macht uns angreifbar, denn diese äußeren Dinge sind alle vergänglich – im Gegensatz zu unserer unsterblichen Seele. Wir, unser Ego, fühlt sich bedroht, wenn sämtliche gesammelten Identitäts-Anker wegfallen oder wenn diese nicht durch die Zustimmung unserer Mitmenschen bestätigt werden.

 

Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard beschreibt dies an einem erhellenden Beispiel:

Je größer das Ego, desto verletzlicher ist man. Der Dalai Lama lässt sich weder von Lob noch von Kritik beeinflussen, Erfolg und Misserfolg überwältigen ihn nicht und bedrohen nicht sein Selbstbewusstsein; er befindet sich in Frieden. Ein Mensch wird stärker, wenn das Ego durchlässiger wird. Am anderen Ende haben wir Präsident Trump, der sich wie ein kleines Kind verhält, nicht wie ein weiser Mann, und überall Leid sät. Sein 'Super-Ego' ist extrem verletzlich; wir sehen es an der gewalttätigen Art, wie er auf Ideen oder Menschen reagiert, mit denen er nicht einverstanden ist, und alles nach seinen Maßstäben bewertet.“

 

Eine eigene, mich prägende Erfahrung mit let it be/vairagya war diese Begebenheit:

Früher hatte ich immer wieder mit cholerischen Männern zu tun. Solche Begegnungen wiederholten sich so offensichtlich, dass ich irgendwann verstand, dass ich hier etwas zu lernen habe. Der kritischste Punkt dabei war, dass ich weder die Art noch den Inhalt der wütenden Rede meines Gegenübers als gerechtfertigt oder gerecht empfand. Ich versuchte jedes Mal, mit ganz vernünftigen Argumenten mich zu verteidigen. Anstatt dass die objektive Darstellung der wirklichen Geschehnisse die Wut des anderen besänftigte, wurde sie stärker. Und ich wurde selbst zornig, denn etwas, das mir schon immer sehr wichtig war, ist Gerechtigkeit. Wenn ich wirklich was falsch gemacht habe, darf man mich auch anmotzen, aber nicht, wenn verdrehte Darstellungen ein verfälschtes Bild ergeben. Das war erschöpfend und ich fühlte mich gedemütigt, ein ums andere Mal. Mit einer einzigen Verhaltensänderung hat sich dieses Thema für mich komplett aufgelöst. Es kam wieder zu einer solchen Situation, ich wurde unerwartet angeschrien, aus dem Nichts – und dieses Mal blieb ich still. Ich sagte kein einziges Wort, hielt meinen Blick aber aufrecht und konzentrierte mich auf einen ruhigen Atem, zumindest innerlich lächelte ich. Wie auch immer ich das geschafft habe. Der Schreistrom ebbte sehr schnell ab und ich begriff, dass meine Rechtfertigungen, egal wie wahr sie waren, bisher nur Öl ins Feuer gegossen hatten. Ich verstand, dass es gar nicht darum ging, was wahr war oder nicht, sondern darum, dass sich da jemand abreagieren will. So ehrenwert ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit ist, Anhaftung daran kann einen verzweifeln lassen. Ich ließ ihn in dem Moment los und konnte dadurch die Energie des Cholerikers durch mich hindurch fließen lassen, anstatt in das PingPong-Spiel der Argumente zu gehen. Seitdem ist das vorbei. Mit diesem Menschen und auch mit anderen. Ich begegne solchen Situationen nicht mehr und ich versuche auch generell nicht mehr, mich zu erklären. Das bringt viel Erleichterung und mich ein wenig näher in Richtung „So Ham“.

 

Es sein zu lassen (let it be) darf nicht mit Resignation verwechselt werden. Vairagya zu praktizieren bedeutet nicht, sich selbst, jemand anderen oder eine Hoffnung aufzugeben. Im Gegenteil. „Let it be“ sind „words of wisdom“ und oft die Lösung, „the answer“, auf die Frage, was kann ich tun in „troubled times, my hour of darkness“. Anhaftungen aufzugeben bedeutet, sich selbst zu überwinden, dadurch zu befreien und größer zu werden. Verstehen kann man das allerdings erst, wenn man bereits losgelassen hat.

 

Vairagya wird in der Yogapraxis auch mit Hingabe und Entspannung in Verbindung gebracht. Zuerst muss abhyasa, das aktive Prinzip eintreten, damit wir uns überhaupt auf die Matte bewegen. Abhyasa steht für Disziplin, das beharrliche Üben. Es braucht aber den Gegenpol des „Nicht-machen-Wollens“, also vairagya, also „let it be“, damit unsere Praxis nicht zu krampfig und ehrgeizig wird, damit wir aus dem „Etwas-erreichen-Wollen“ herauskommen und uns hingeben können: an den Moment, an das, was wir tun. Wenn wir es schaffen, dass die Übungen durch uns hindurchfließen, sich selbst machen, dann haben wir das Prinzip des Loslassens, die Aufgabe von Kontrolle, im Yoga verwirklicht. Und das ist Flow.

 

Wie immer ist die Matte unser Trainingsfeld für unser Verhalten und Sein im Alltag. Wir können auf der Matte üben, weniger perfekt sein zu wollen, nicht unbedingt in die Endposition zu gehen, wenn es sich heute nicht natürlich anfühlt, vielleicht sogar die Idee loszulassen, irgendwann einmal perfekt in Natarajasana zu stehen oder im Lotussitz zu sitzen. Interessanterweise sinkt damit nicht die Motivation im Yoga, sie steigt. Wir werden offener, weicher, freundlicher und fröhlicher – und damit löst sich auch der ein oder andere feste Muskel.

In der Meditation können wir üben, nicht auf jedes Jucken zu reagieren, nicht jeden Gedanken zu analysieren, nicht jeder Unruhe nachzugeben und die Meditation frühzeitig zu beenden.

 

Letztendlich hilft uns vairagya, ein natürliches Gesetz zu verstehen und zu akzeptieren.

Alles ist im Wandel. Alles ändert sich ständig.

Vairagya/let it be findet sowieso statt.

Die Frage ist nur, ob wir freiwillig mitmachen?