Wenn sich im Meer eine Welle bildet und sie sich aus dem Wasser erhebt, eine eigene Form bildet, dann hat sie vergessen, was ihre wahre Natur ist. Sie hält sich für eine Welle, diese Form ist zu ihrer Identität geworden.
Dabei ist doch ihre wahre Natur: Wasser!
Das versteht sie erst, sobald sie sich wieder im großen Ozean aufgelöst, ihre Form sich gelöst hat und sie eins mit all dem anderen Wasser geworden ist.
Mit diesem poetischen Bild erklärt der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, was unser Wahres Selbst ist, von dem im Yoga, in der Meditation und in den fernöstlichen spirituellen Traditionen die Rede ist.
Diese Techniken sollen das Wahre Selbst freilegen, uns wieder in Kontakt damit bringen.
Wenn es ein Wahres Selbst gibt, gibt es dann auch ein Falsches Selbst?
Falsch wohl nicht. Denn das Wahre Selbst ist immer da, ganz so, wie die Welle immer Wasser ist, egal, welche Form es annimmt. Doch unser Wahres Selbst kann sehr wohl überlagert sein von Illusionen, Ängsten, Wut, Hass, Unachtsamkeit und so vielem mehr. Wenn diese Schichten dicker und dicker werden, können wir unsere wahre Natur darunter nicht mehr wahrnehmen. Wir denken, wir sind diese Schicht. Wir erkennen den unzerstörbaren und hochreinen Diamanten – der unser Wahres Selbst repräsentiert – darunter nicht mehr.
Für unser Leben und unsere Wahrnehmung bedeutet das:
Wer sich in den Vorgängen des Alltags verstrickt, wer das Gefühl hat, mit allem nicht fertig zu werden, nicht hinterher zu kommen, nichts gut genug zu machen bzw. sich das Gelingen all der Alltagsdinge als höchstes Ziel setzt und wessen Wohlbefinden und Wertschätzung (sich selbst und anderen gegenüber) vom Erreichen dieser Dinge abhängig macht, der kennt nur sein Alltags-Selbst. Das Alltags-Selbst vergleicht sich auch all zu oft mit anderen, treibt sich selbst durch Negativmotivation an – „Was habe ich alles noch nicht erreicht…!“ – oder blockiert sich durch negative Gedanken: „Das schaffst du doch eh nicht.“
Das Alltags-Selbst zeigt sich dadurch, dass es selbst, die Umstände, die Mitmenschen, das Erreichte nie genug ist. Etwas scheint zu fehlen.
Wir verstehen nur meist nicht, dass es nicht der perfekte Partner, der Traumjob, die fantastische Wohnung ist, diese eine Handtasche, dieses Wissen oder jene Fähigkeit ist, was fehlt.
Was wirklich fehlt, ist der Kontakt zum inneren Kern, zum Wahren Selbst, zu unserer wahren Natur. Wenn diese Verbindung besteht, wissen wir: Wir sind genug. Und wir waren schon immer genug. Vollständig. Perfekt.
Nicht, weil wir alles hätten oder es in Perfektion könnten. Nein. Einfach, weil wir sind.
Manche Menschen erfahren ihr gesamtes Leben lang nicht, wer sie sind. Sie haben sich selbst verpasst, weil sie nicht bis zu ihrem innersten Kern durchgedrungen sind. Weil sie sich an äußeren Maßstäben orientiert und gemessen haben.
Das Yogasutra beschreibt das Wahre Selbst als inneres Licht, das von Leid unberührt ist und schlägt vor:
„Mentaler Druck kann durch das Besinnen auf das Innere Licht,
welches von Leid unberührt ist, gelöst werden.“
~ Yogasutra, 1.36
... und der Vater des KundaliniYoga so:
„Die Unendlichkeit ist deine eigene Erfahrung mit dir selbst.
Bringe dich selbst zurück zu dir selbst.“
~ Yogi Bhajan
Und um bei der Wassermetapher zu bleiben, gibt es dieses wunderbare Bild, das veranschaulicht, was es bedeutet, mit unserem Wahren Selbst verbunden zu sein:
„I see myself as still water. I reflect things as they are.“
~ Thich Nhat Hanh
Diesen Satz kann man wunderbar als Mantra nutzen, um sich zu erinnern, wer oder wie man wirklich ist.
WAS UNS VON UNSEREM WAHREN SELBST ENTFERNT
-
Unachtsamkeit. Du verpasst das Hier und Jetzt, also verpasst du auch dich selbst / Dein Selbst.
-
Unbewusstheit. Das Leben rauscht einfach an dir vorbei.
- Dualistisches Denken. Hier bin ich – da sind die anderen. Zwei verschiedene Ebenen ohne Verbindung.
- Leid. Leid steht im Unterschied zu Schmerz. Schmerz ist unvermeidbar, wir werden Schmerzen erfahren, mental, emotional, körperlich. Leid jedoch entsteht erst dann, wenn wir die Schmerzen nicht loslassen. Wenn wir jahrelang ärgerlich bleiben, ohne vergeben zu können. Wenn wir einen Fehler gemacht haben, der unser gesamtes Bild von uns selbst prägt. Wenn wir uns auf welche Weise auch immer schaden.
- Anhaftung und Ablehnung. Etwas sehr zu wollen und etwas gar nicht zu wollen ist im Buddhismus gleichbedeutend, also gleich schadhaft. Diese Haltungen machen uns abhängig und unglücklich, weil wir urteilen, anstatt in den Neutralen Geist zu gehen und zu sagen: Es ist.
WAS UNS MIT UNSEREM WAHREN SELBST IN KONTAKT BRNGT.
- Achtsamkeit. Das ist 100%ige Aufmerksamkeit, nach innen und nach außen.
- Radikale Akzeptanz. Ist gleichbedeutend mit dem Neutralen Geist, der sagt: Es ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach nur. Um die Radikale Akzeptanz und den Neutralen Geist zu üben, hilft der obige Vers von Thich Nhat Hanh: „I see myself as still water. I reflect things as they are.“ - „Ich sehe mich als stilles Wasser. Ich reflektiere die Dinge, wie sie sind.“
- Der bewusste Blick auf alle inneren und äußeren Vorgänge. Z.B.: „Ich nehme wahr, dass ich in diesem Moment Ärger empfinde. Jedoch weiß ich, dass ich nicht dieser Ärger bin und ich weiß auch, dass niemand anderer als ich selbst dafür Verantwortung trägt, dass ich ihn empfinde. Ich weiß, dass der Ärger gerade da ist. Doch ich weiß auch, dass in mir gleichzeitig Ruhe und Gelassenheit existieren.“
- Die Meditation auf das innere Licht, s.o.
- „Ich bin angekommen. Ich bin zu Hause.“ Diesen Achtsamkeitsvers kann man beim Meditieren nutzen, beim Gehen, im Alltag. „Ich bin zu Hause.“ bedeutet nicht, an irgendeiner bestimmten Adresse angekommen zu sein. Er bedeutet, dass, wo immer ich bin, was immer ich tue, kann ich in mir selbst zu Hause sein, weil ich in mir selbst ruhe, weil ich in Kontakt mit meiner wahren Natur bin. Dieser Vers zeigt uns auf, dass wir nichts erreichen müssen, um vollständig zu sein. Er zeigt uns, dass unser Glück nicht in der Zukunft liegt oder schon vergangen ist. Er zeigt uns, dass wir schon immer genug waren und es auch jetzt, in diesem Moment, sind. Die Einsicht des „Nichts-erreichen-Müssens“ ist gleichbedeutend mit dem Erkennen des eigenen Wahren Selbst.
- Das Mantra "So Ham" (oder auch "Sat Nam"). Es bedeutet: Dies bin ich. Dies ist mein Wahres Selbst/meine wahre Natur. Ganz ohne Erklräung oder Beschreibung. Dies bin ich. Ich bin dies.
- Das Mantra "Wahe Guru". Es bringt uns in Verbindung mit der Wahrheit, mit dem Erkennen dessen, was wirklich ist. Daher ist "Wahe Guru!" auch ein Ausruf der Freude und der Bestätigung. Dem christlichen "Amen" nicht unähnlich.
- Die Kriya aus dem KundaliniYoga "Experiencing The Original You".
- Auch dies ist ein wunderbarer Weg, die eigene wahre Natur zu finden. Über den Weg der Güte, des Mitgefühls – der Menschlichkeit:
„Denke jeden Tag beim Aufwachen: Heute habe ich das Glück, am Leben zu sein,
ich habe ein kostbares, menschliches Leben, ich werde es nicht verschwenden.
Ich werde alle meine Energien nutzen, um mich selbst zu entwickeln, um mein Herz auf andere auszudehnen, um Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu erlangen.
Ich werde freundliche Gedanken gegenüber anderen haben, ich werde nicht wütend werden oder schlecht über andere denken. Ich werde anderen so viel Nutzen bringen, wie ich kann.“
~ Dalai Lama
- Signlessness. Die Zeichenlosigkeit ist eine buddhistische Idee und meint: Wenn wir uns nicht von äußeren Formen verwirren lassen (so, wie die Welle das zum Anfang dieses Artikels gemacht hat), können wir tiefer blicken und die wahre Natur von allem erkennen. Denn das Wahre Selbst stirbt nicht, nur weil es den Körper nicht mehr gibt. Alles Äußere (Unwahre) transformiert sich, das Wahre ist unsterblich – und das ist unser Wahres Selbst.
Ist das Wahre Selbst die Seele?
Vielleicht.
Gar nicht unwahrscheinlich.