Vom Trauma zum Flow. Rabihs Geschichte. Teil II

 Dies ist der zweite Teil meines Interviews mit Rabih Lahoud. Wer den ersten Teil noch nicht gelesen hat, sollte das tun: Vom Trauma zum Flow. Rabihs Geshichte. Teil I

Es geht weiter mit dem Thema "Flow" und wie man durch den Flow-Zyklus geht. Zuvor ging es um die Bedeutung des Fokus innerhalb dieses Kreislaufes, dass der Fokus das Nervensystem reinigt und dadurch für uns Klarheit schafft, eine Ehrlichkeit uns selbst gegenüber und uns motiviert...

 

 

Letztendlich ist der Fokus aber auch das, was du aufgebaut hast durch Erholung, durch Präsenz und Bewusstsein, dann hat sich Energie aufgebaut. Die Frage ist dann nur: Wo soll diese Energie hin? Diese Energie benötigt ein klares Ziel, damit sie dort auch ankommt und nicht nur verpufft und zu nichts führt.

Absolut. Dafür brauche ich einen gesunden präfrontalen Cortex (Anm. N.S.: das ist der Teil des Gehirns, der mit emotionalen Bewertungen, Kurzzeitgedächtnis, Langzeitplanung, Entscheidungsfähigkeit und Handlung in Zusammenhang steht.), der eine Planung machen kann, die mir einen Weg zeigt – den ich später aber auch wieder loslassen kann. In der Erholung entsteht die Energie, durch das Ringen hole ich sie raus und dann muss ich sie leiten – so, wie du gesagt hast. Denn wenn ich sie heraushole und sie überall ist, dann bin ich verwirrt, dann könnte es auch sein, dass nichts mehr geht. Diese Energie zu leiten, das ist der Fokus, aber dann muss sie auch fließen. Sie muss losgelassen werden – das ist das Geschenk des Flows. Und wenn sie geflossen ist, die Energie, dann muss man sich wieder ausruhen. Die Energie ist nicht weg, aber man hat sie genutzt. Die Erholung hilft, den Speicher wieder aufzufüllen.

 

 

Das Loslassen oder Lösen stelle ich mir vor wie bei einem Bogenschützen: Der zieht und spannt den Bogen, aber er kann nicht die ganze Zeit in dieser Position bleiben. Er fokussiert sein Ziel und baut Energie auf, doch irgendwann muss er den Pfeil abschießen und somit loslassen.

Genau. Es gibt zwei Dinge, auf die man achten muss. Wenn man zu schlaff ist, fliegt der Pfeil nicht, dann fällt er runter. Wenn man zu verkrampft ist, fliegt er auch nicht, dann bleibt er oben ohne zu fliegen. Das Festsein ist der Sympathikus und das Schlaffsein ist der dorsale Vagus. Es geht aber um eine lebendige Spannung genau dazwischen: Genau zwischen 'fest' und 'schlaff', das ist der ventrale Vagusnerv, der das für uns macht und mir das Wissen darüber gibt, wohin der Pfeil fliegen soll und wann meine Finger ihn loslassen können.

 

 

Und wenn ich mich nun fokussiert habe und losgelassen habe, der Pfeil fliegt: Ist das dann der Flow?

Das kann sein, muss aber nicht. Der Flow entsteht auch hier vor allem durch die Wiederholung – durch das wiederholte Fokussieren und Loslassen, Fokussieren und loslassen... irgendwann 'flowt' es. Das ist wieder der Flow-Zyklus. Das Spannende ist, wenn der Flow stattfindet, wirst du selbst zum Pfeil. Du bist dann nicht mehr der Bogenschütze, sondern der Pfeil, den du gespannt hast. Du fliegst. Im Körper passiert dann ganz viel, sechs verschiedene Hormone werden in diesem Moment ausgeschüttet, von Adrenalin bis Oxytocin. Dadurch geht man durch ganz viele verschiedene Zustände. Auch das ist ein Grund dafür, dass wir uns nach dem Flow erholen müssen.

 

 

Wenn ich all diese Schritte schon oft geübt hat, bin ich dann zukünftig schneller im Flow?

Ja, das geht dann schneller. Weil das Erkennen schneller wird. Du erkennst immer schneller, wie du die Energie hochholst, wohin du fokussieren sollst, wie du löst und du bist smart genug, um dich nach dieser schönen Erfahrung zu erholen.

 

 

Sicherlich auch, weil man weiß, dass er wiederkommt, der Flow. Oft wollen wir an solch wunderbaren Ereignissen festhalten, wollen nicht, dass sie aufhören. Wenn wir sozusagen ein Rezept haben, wie wir das wiederbekommen können, können wir auch den Flow selbst gehen lassen, um uns auszuruhen...

Ja, genau. Für viele Sänger ist das Problem der Sucht da. Der Flow macht wirklich süchtig durch all die dabei ausgeschütteten Hormone. Man erkennt: „Ah, okay, das ist es! Das muss ich festhalten!“. Das Leben auf der Bühne ist ja ein ganz anderes als das im Alltag und anstatt, dass dieser Wechsel sein darf, entsteht dann eine kranke Diskrepanz zwischen diesen beiden Zuständen. Mann will dann ständig auf der Bühne den Flow erleben. Aber den kann man ja nur erleben, wenn man sich erholt hat.

 

 

Ist das so ein Gefühl wie „Mein Leben wird nie wieder besser sein als in diesem (Flow-) Moment!“?

Ja. Und genau deswegen darf man den Flow nicht so wichtig nehmen. Man sollte sich immer am gesamten Flow-Zyklus orientieren. Das ist das wichtigste! Alle Phasen sind gleich wichtig. Die Erholung genauso wie der Flow – manchmal ist die Erholung vielleicht sogar ein bisschen wichtiger.

 

 

Ich gehe nochmal einen Schritt zurück in unserem Gespräch. Du hast davon gesprochen, dass Singen für dich bedeutet, eine Verbindung mit dem Publikum zu schaffen. Was geschieht, wenn du für dich alleine ohne Publikum singst?

Wenn ich alleine bin, dann stelle ich mir die dritte Prosodie-Frage: Das 'Warum?'. Dadurch wird immer klarer in meinem Bewusstsein: „Warum singe ich? Warum singe ich? Warum singe ich?“

 

 

Und stellst du mit dieser Frage eine Verbindung zu deinem Innersten her?

Ja, genau. Wenn ich alleine mit mir selber bin, muss ich das üben. Das bedeutet für mich, in diese Frage und in diese Klarheit, die darin liegt zu gehen: „Warum singe ich? Warum mache ich das?“

 

 

Bekommst du immer dieselbe Antwort oder ganz unterschiedliche?

Ganz oft lasse ich diese Frage unbeantwortet. Ich stelle einfach nur die Frage. Für mich ist das so wohltuend zu sehen, wie der Körper sich damit löst. Was da insgesamt passiert, wenn ich nur die Frage stelle und den Körper antworten lasse. Manchmal ist die Antwort auch: „Vielleicht brauche ich das Singen gerade.“

 

 

Was du sagst, kann man auf absolut alle Lebensbereiche beziehen. Weil es viel mit Motivation zu tun hat, mit der Frage „Wer bin ich und warum tue ich dies oder jenes?“. Oft versuchen wir, irgendwelche Antworten zu erzwingen, die aber nicht kommen. Nicht so, wie wir es wollen. Es können ganz andere Ebenen sein, die mit uns sprechen und die Antworten geben.

Genau. Ich weiß, dass ich mich selbst in verschiedenen Lebenssituationen anlügen werde. Das weiß ich inzwischen einfach. Daher vertraue ich nicht immer meinen eigenen Antworten, die aus meinem Mund, aus der Sprache kommen. (Rabihs Ehrlichkeit lässt mich lachen...) Aber ich vertraue meinem Körper, auch, wenn er blockiert ist! Denn diese Blockade ist eine ehrliche Antwort auf etwas in dem Zyklus, das nicht weitergegangen ist. Für mich ist das Hören auf diese Blockade viel wichtiger, als auf irgendwelche Antworten, die ich fabriziere, nur weil mein Verstand nicht weiter weiß. Aus diesem Grund singe ich in meiner Band Masaa oft Worte, die kein echter Text sind. Dann kann mein Körper besser sprechen. Im Bezug auf das Analysieren und den Verstand ist das Gehirn für mich zu Achtzig Prozent ein Endorgan anstelle eines Ausgangsorgans. Das Gehirn bekommt vom Körper Informationen und versucht, aus ihnen einen Sinn herzustellen. Seine Sprachlichkeit funktioniert nacheinander: Ein. Wort. Nach. Dem. Anderen. Der Körper erfährt aber alles immer gleichzeitig – so etwas kann die Sprache niemals ausdrücken.

 

 

Rabih, ich weiß, dass du unterschiedlich singst. Du singst – im weitesten Sinne – Popsongs und klassische Lieder. Du chantest aber auch ein Mantra: Das 'Nam Myoho Renge Kyo' aus dem Nichiren Buddhismus. Was ist der Unterschied für dich, auf diese verschiedenen Weisen deine Stimme zu nutzen?

Das ist insofern anders, dass das Mantra mich auf einer tieferen Ebene mit etwas viel Komplexerem verbindet als nur mit dem Nervensystem. Das Singen auf der Bühne ist, glaube ich, ein Hilfsmittel, sodass eine Verbindung fließen kann zwischen mir und dem Publikum. Das Mantrachanten durchdringt mein Leben auf eine viel tiefere Weise. In dem Moment singe ich eigentlich nicht mehr, das ist vielmehr eine Ur-Schwingung. Das ist kein Hilfsmittel. So eine Ur-Schwingung 'anzuschalten', das gehört für mich zur Phase der Erholung. Oder ist vielleicht sogar eher der Übergang zwischen 'Erholung' und 'Ringen'. Das Chanten ist etwas, bei dem ich die Energie wieder hochhole. Das Singen auf der Bühne bewegt sich im Unterschied dazu vom 'Fokus' zum 'Lösen'.

 

 

Wenn du dein Mantra chantest, womit schaffst du hierbei eine Verbindung?

Ich würde sagen, mit meinem ursprünglichen Ich. Das ist mein Eindruck davon. Also ob das, was ich jetzt gerade bin, eine Rolle ist – nicht im negativen Sinne, sondern ich kann diese Rolle nutzen, ich kann diese Geschichte, die ich habe, den Körper, den ich habe nutzen und verwenden, damit Veränderungen bewirken und Verbindungen herstellen. Und dann gibt es aber auch dieses ursprüngliche Ich aus dem all diese Geschichten und Befindlichkeiten stammen. Mantren zu chanten ist eine Art Rückkehr dahin, um sich grundsätzlich auf einer universellen Ebene zu erholen.

 

 

Es wird in Yoga- und ähnlichen Kreisen immer wieder betont, dass es heilige, besondere und heilsame Klänge gibt. Auch die 'Solfeggio Sounds' gehören dazu. Im Gegensatz dazu wird manchmal vor schädlichen Klängen gewarnt. Denkst du, dass es Musik und Frequenzen gibt, die schädlich sind für uns?

Jein. Bei Menschen, die schnell durch äußere Einflüsse in die Unsicherheit geschickt werden, da würde ich sagen: Ja, diese schädlichen Frequenzen gibt es. Aber eigentlich geht es nicht darum, ob es etwas Schädliches gibt. Ich muss nur wissen, dass ich immer die Fähigkeit habe, Dinge so zu filtrieren, dass sie mich nicht schädigen können. Das ist meine eigene Überzeugung, dass wir das können. Aus der Angst vor den schädlichen Einflüssen der Umwelt zieht man sich dann zurück. Trotzdem muss ich aufpassen und im jeweiligen Moment schauen, welchen Dingen ich mich gerade aussetzen kann – oder nicht. Was ist jetzt gut für mich und was nicht? Diese Fähigkeit zwischen gefährlich und nicht gefährlich unterscheiden zu können, das ist wichtig. Gleichzeitig ist es wichtig, sich mit der inneren Überzeugung zu verbinden, dass die Potenzialität des Schutzes in mir unendlich ist. Die Frage dabei ist immer: „Kann ich das jetzt wirklich spüren, diesen Schutz?“ Und damit kann ich auch beantworten: „Was ist für mich gerade schädlich und was nicht?“

Ich kann auf jeden Fall sagen, dass es schwierigere Frequenzen gibt und einfachere.

 

 

Haha, sehr schön zusammengefasst! Es kommt also immer auch darauf an, wie resistent und resilient ich bin, wenn es um 'gute' und 'schlechte' Schwingungen geht.

Zum Thema Schwingungen teilen: Ich habe mal gehört, dass sich bei Konzerten die Hirnfrequenzen angleichen – die innerhalb des Publikums, aber auch auf die Band übergehend. Kennst du das auch?

Absolut! In der Flow-Forschung werden die Hirnfrequenzen ja auch mit erforscht. Man weiß, dass Flow zwischen dem Alpha- und Theta- Zustand stattfindet (Anm. N.S.: Diese Arten Hirnwellen zeigen an, dass man in einem Zustand der tiefen Entspannung oder der Trance ist.), man wabert die ganze Zeit zwischen diesen Frequenzen. Die Kanäle zu Beta und Delta sind aber auch offen (Anm. N.S.: Das sind die Hirnwellen des wachen, alarmbereiten Bewusstseins bzw. der Bewusstlosigkeit). Ich merke auf der Bühne selbst, was da für ein Frequenzchaos geschieht, wenn so viele Menschen zusammenkommen. Und ich fühle mich verantwortlich, diese vielen Frequenzen aus den Gehirnen zu sammeln und in eine Richtung zu schicken.

 

 

Das kannst du?!

Ich glaube, das gelingt mir immer mehr. Ich spüre das an den Reaktionen und an der Aufnahmefähigkeit der Menschen, wie sie zuhören. Wenn ich mich sicher fühle, dann weiß ich, dass alle wirklich zuhören. Dann weiß ich, ich habe sie – und wir haben uns – da hin gebracht.

 

 

Das erinnert mich an ein Konzert, von dem du mir mal erzählt hattest. Das war im Libanon. Das Publikum war schwierig: Sie haben sich unterhalten und auf den Handys herumgetippt – und du konntest sie kaum erreichen.

Oh ja.... Da war das Licht an im Saal, die Studenten, die das Publikum waren, haben auf ihren Handys herumgetippt und mein Vater saß auch noch ganz vorne. Das war für mich nicht der Freiraum für Flow. (Rabih lacht)

 

 

Das ist ja auch wieder so eine Trigger-Situation. Schwierig. Was hast du gemacht, damit du nicht in den Flucht-Kampf-Starre-Modus verfallen bist?

Ich weiß noch, dass ich sehr viel bei diesem Konzert auf die Ereignisse in meinem Körper geachtet habe. Auf eine gewisse Weise habe ich eine Übersensibilität für mein körperliches Empfinden; das kommt durch meine Kindheit, die eher schwierig war. Und dadurch, dass mein Vater auch da war, meine Familie, schickte mich diese Situation wieder in dieses Empfinden. Aber dass meine Band dabei war, war für mich eine große Hilfe. So war das, als wenn zwei Planeten verschmolzen wären: Da war mein altes Leben im Saal, die libanesische Welt, meine körperliche Übersensibilität, meine Familie und mein jetziges Leben auf der Bühne mit der Band. Und beide Welten begegneten sich in mir. Die Band-Welt hat das alles geordnet: Ich merkte: „Ah, ich bin in meinem Körper. Darin spüre ich eine andere Zeit. Dadurch konnte ich mich aber auch wieder mit dem Jetzt verbinden. Dadurch merkte ich, wie ich meinen Magen verändern könnte, damit der wieder lebendig wird oder dass ich das Zwerchfell wirklich in die Kontraktion und in die Expansion gehen lassen konnte und ich singen konnte... und auf einmal weinte mein Vater vor mir. Und da merkte ich, okay, ich habe die Verbindung zu meiner eigenen inneren Sicherheit wiedergefunden. Und dass ich sie gerade selbst erschaffe – das trifft ihn, meinen Vater. Das war in dem Moment das wichtigste für mich: Bei ihm ist meine Veränderung angekommen. Und damit war für mich dann ein Flow-Zyklus abgeschlossen. Ich konnte ihn mit meiner Stimme erreichen und durch seine Reaktion, die Tränen, kam auch wieder was zu mir zurück.

 

 

Du hast es geschafft, dich nicht in die Vergangenheit ziehen zu lasen. Du hast zwar gemerkt, dass sie präsent ist, aber du hast dich nicht überwältigen lassen, sondern das Steuer in dieser Situation übernommen.

Ganz genau. Man könnte sagen, ich habe neu verhandelt.

 

 

Im Grunde heißt das doch, dass du mit deinem Nervensystem immer so bewusst umgehst, dass du spürst was los ist und schaust dann, was du verändern kannst.

Ja, genau so. Ich mache das momentan mit Farben. Für mich ist der ventrale Vagus blau, der Sympathikus gelb und der dorsale Vagus ist rot. Daraus ergibt sich auch noch Grün und Lila, weil Blau alleine nicht existiert, der ventrale Vagus ist nur da, um die beiden anderen zu leiten. Für mich ist das so, als würde ich in dieses Farbbild hineingehen und sehe die kleinsten Pixel der Farben. Ich sehe dann, wie sich manche zurückziehen. Wenn sich z.B. mehrere blaue Pixel zurückziehen, dann gibt es mehr Gelb und wenn ich von diesem Bild wieder weiter weg gehe, dann sehe ich, es wird hellgrün. Diese minimalen Pixel-Veränderungen, die spüre ich. Und ich kann dann sagen: „Bitte mehr blaue Pixel.“ - dadurch habe ich dann weniger Spannung und mehr Flexibilität. Oder wenn ich zu sehr in der Ruhe bin (im dorsalen Vagusnerv), dann kann ich mir durch die richtige Farbmischung wieder mehr Aktivität geben, sodass ich nicht in den Rückzug rutsche.

'Neuronales Tuning' nenne ich das. Das übe ich seit drei Jahren jeden Tag intensiv. Das ist eine reine Übungssache und braucht Disziplin.

 

 

Das ist die perfekte Überleitung zu meiner nächsten Frage, lieber Rabih. Ich weiß, dass du jeden Morgen deine Übungspraxis hast. Dieser Blog heißt ja „Keep calm and do your practice“ - im Grunde verkörperst du diese Motto! Was ist deine morgendliche, tägliche Praxis, wie sieht das bei dir aus? Ich weiß, dass dein Morgen sehr früh beginnt, dein fröhliches „Guten Morgeeeeen!“ eben am Telefon trotz der frühen Uhrzeit spricht für sich. Also, wann legst du los und womit und womit trickst du deinen inneren Schweinehund aus?

Mhhhhmm... das ist eine sehr gute Frage. Ich fange einfach mal mit meinen Abläufen an, dann fällt mir vielleicht dabei ein, wie ich das schaffe. (Rabih lacht) Ich stehe um fünf Uhr auf, eigentlich würde ich dann direkt das Bett machen, das kann ich aber nicht, weil noch andere darin schlafen. (Jetzt kann ich nicht mehr aufhören zu lachen...). Ich muss das Schlafen abschließen, das würde ich eigentlich mit dem Bettmachen tun, aber ich mache das anders, indem ich meinen Wecker mitnehme: Der Wecker klingelt, ich mache ihn aus und nehme ihn mit raus.

 

 

Das finde ich total spannend, dass du das machst: das Schlafen abschließen. Das Thema der „losen Enden“, also der unbeendeten Prozesse, Gefühle, Tätigkeiten, die ständig um uns herumschwirren und uns Energie rauben, bewusst abzuschließen, um weiterkommen zu können.

Ja, das stärkt den eigenen Willen, wenn eine Aktivität abgeschlossen wird. Das schwächt den inneren Schweinehund. Durch solche äußeren Abschlüsse bekommen wir in unserem innersten Kern einen Beweis unseres Willens und unserer Wirksamkeit.

 

 

Das ist gut zu wissen! Okay, Schweinehund gezähmt, Willen gestärkt, wie geht es weiter?

Dann trinke ich mindestens einen halben Liter Wasser. Durch die Nacht sind meine Stimmbänder dehydriert, das braucht meine Stimme. Das ist also mein zweites Ritual. Und dann chante ich zwanzig Minuten (Anm. N.S.: Das Mantra des Nichiren Buddhismus 'Nam Myoho Renge Kyo'). Dazu mache ich Kerzen und Räucherstäbchen an, dadurch wird der Ort des Chantens 'angemacht', dadurch komme ich dort an. Nach dem Chanten machen ich eine abgewandelte, an mich an angepasste 'Wim Hof-Atemübung' und danach mache ich zehn Minuten intensiv Sport: Situps und Ähnliches, ganz banale Sachen, die meine Energie hochbringen. Das Chanten hat etwas mit Atmen und Stimme zu tun. Und dann kommt durch noch mal mehr und intensiverer Atem, damit mache ich den ventralen Vagus an. Und dann kommt durch den Sport ganz viel Sympathikusaktivität, die Energie wird hochgeschickt, um den Tag zu starten. Und dann: Kaffee, Frühstück!

 

 

Und dann wartet ja neben deinem Beruf und der Familie auch das Buch auf dich, das von dir geschrieben werden will. Wie schaffst du das, dich da diszipliniert dranzusetzen?

Indem ich es einfach tue! (Rabih lacht) Ich würde sagen, dieses Ritual am Morgen hilft ungemein dabei. Das macht ungefähr siebzig Prozent meiner Unterstützung aus. Ich nutze aber auch die inneren Begierden. Die werden verwandelt in etwas Positives, wenn man sie nutzt und sich nicht von ihnen abschneidet. Begierde bedeutet für mich: „Ich will..., weil...!“ Ich möchte das Buch fertig kriegen oder ich will fitter sein oder ich möchte glücklicher sein. Alles was ich will, mein Wollen, die Begierde verwandle ich, indem ich sie nutze: zum Aufstehen, zum Tun. Und wenn ich diese guten Dinge tue, sind sie nicht mehr negativ. In diesem Moment erkenne ich: „Ah, krass, das Wollen war gerade ein super Hilfsmittel und jetzt lasse ich das wieder los.“ Und wenn ich schreibe, dann weiß ich, ich mache jedes Mal neunzig Minuten. Ich mache diese neunzig Minuten, egal, ob in dieser Zeit ein Wort oder fünftausend Wörter entstehen, es sind immer diese neunzig Minuten. Danach stehe ich auf, ich höre auf und tue etwas ganz anderes. Egal, ob es mit dem Schreiben gerade gut lief oder nicht, ich stoppe dann immer. Das ist manchmal so schwer. Gerade am Anfang lief es bei mir immer erst in der letzten halbe Stunde gut, da war ich 'an' und da fiel es mir schwer aufzuhören. Aber das hat mir so viel Input für die nächste Session gegeben, dass ich direkt ins Schreiben reingehen konnte. Ich nutze den Flow-Zyklus also auch für das Schreiben, indem ich sage: „Ja, der Kampf muss sein, ich kämpfe, auch wenn dabei nichts rauskommt.“ Manchmal tune ich mich neural zwischendurch, dann lasse ich Mozart nebenbei laufen. Das mache ich, wenn ich merke, dass ich es brauche. Die nächste Schreibsession wird bei mir immer besser, wenn ich mich vorher an die neunzig Minuten gehalten habe, weil ich damit den Flow-Zyklus eingrenze.

 

 

Das heißt, du machst mehrere solcher Sessions am Tag, Hauptsache, es gibt Pausen?

Ja, genau. Wie viele, das hängt vom Alltag ab. Ich schaffe es morgens meistens, zwei Sessions zu machen und nachmittags eine.

 

 

Damit der Vagusnerv und damit unser Nervensystem gut funktioniert, benötigt er Regeln. Dein Alltag klingt sehr strukturiert, du hast deine Rituale – die ja auch Regeln sind – aber darin scheinst du deine Freiheit zu finden.

Ja, absolut. Das hat vielleicht viel mit mir zu tun, weil ich einige Traumata aus der Kindheit habe, sodass ich meine Struktur dadurch verloren habe. Deswegen übertreibe ich ein wenig. Für mich ist das eine riesige Befreiung, weil mir die Struktur hilft, mich wiederzufinden. Meine innere Stimme redet dann nicht mehr so lügenvoll mit mir, ich kann sie dadurch disziplinieren und sagen: „Check mal, was gerade wirklich los ist.“ Mir hilft Struktur sehr, weil ich sie in meiner Kindheit nicht hatte. Eine Unterscheidungsfähigkeit, die bei mir gefehlt hat, war die zwischen 'sicher' und 'unsicher'. Das kam durch die Verbindung zu meinen Eltern: In einem Moment wurde ich total umgarnt, im nächsten total ignoriert. Diese Erfahrung habe ich zwischen null und sechs Jahren sehr oft gemacht. Das hat mein neuronales System verwirrt: Ist das jetzt die totale Verbindung mit den Menschen oder ist das die totale Bedrohung? Wo ist der Unterschied zwischen Liebe und Gewalt? Das war für mich verschwommen. Dann kam noch hinzu, dass ich unglaublich viele Talente mitgebracht habe als Kind und die konnte ich nicht verwirklichen. Sie wurden sogar repressiv behandelt, zurückgedrängt. Dadurch entstand eine riesige Blockade. Jetzt ist es so, dass ich es schaffe, diese große zurückgehaltene Energie stückchenweise rauszulassen. Wenn sie auf einmal rauskommen würde, würde ich verbrennen.

 

 

Die Regeln machen das dann also für dich, das Stück für Stück...

Ja, genau.

 

 

Hast du irgendeinen Tipp, den du ängstlichen und Trauma belasteten Menschen geben kannst?

Da gebe ich mal meine vier JA!s als Tipp:

 

Das erste JA!:

JA!, zum Fehler machen:

das zu üben, Fehler zu machen. JA! zum Risiko, sogar zum Scheitern

 

Das zweite JA! Ist:

JA! zur Wahrnehmung des jetzigen Augenblicks,

des jetzigen Geschehens, der Wahrnehmung in diesem Moment.

 

Das dritte JA!

JA! zur intensiven Freude.

Sodass man Freude nicht sofort in böse Vorahnung verwandelt wie in: „Ja, ich freue mich, aber es könnte noch dieses oder jenes geschehen.“ Freude bis zum Ende zulassen!

 

Und:

JA! zu verrückten Ideen.

 

Diese JA!s beschreiben dich sehr gut, lieber Rabih! Vielen Dank für deine Zeit und all die wertvollen Inspirationen!

 

 

Foto: Andy Spyra

www.rabihlahoud.de

Rabihs Band 'Masaa'

Mit Rabih und Masaa im Libanon