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Lektion in Mitgefühl und Liebe.

Mitgefühl ist die Basis des Buddhismus – und eigentlich jeder Religion, aller ethischer Konzepte. Mitgefühl ist nicht – wie oft missverstanden – Mitleid. Wir wollen nicht mit dem anderen leiden, aber mit ihm fühlen. Das bedeutet: nachvollziehen können, dass und warum dieser Mensch leidet. Wir verstehen den Schmerz eines geliebten Menschen, weil wir uns ganz leicht in ihn hineinversetzen können, weil wir ihm gegenüber offen sind, weil wir ihn kennen und lieben. Mit einem Menschen, den wir so gut wie oder gar nicht kennen oder vielleicht ablehnen oder gar verachten, sieht es da anders aus. Einen Menschen, der uns oder anderen Schlechtes getan hat, wollen wir nicht verstehen, seine Hintergründe, das Leid, das ihn zu dieser oder jener Tat getrieben hat, nicht sehen. Wir wollen lieber wütend bleiben oder denken: „Das hat er ja auch verdient. Soll es ihm nur schlecht gehen, das ist ausgleichende Gerechtigkeit.“

 

Im Buddhismus funktioniert das so nicht. Wir sind alle miteinander verbunden, alle Wassertropfen ein und desselben Ozeans. Ob ich den anderen nun wertschätze oder nicht: Ich bin der andere, der andere ist ich. Lehne ich einen Menschen ab – verweigere ich ihm also das Gefühl der Liebe – lehne ich auch mich selbst ab. Vollständig im Gefühl der Liebe zu leben, Liebe ohne Einschränkung und Bedingungen sich selbst und anderen Lebewesen geben zu können, ist die Vervollkommnung des Lebens. Der Denkfehler, der hierbei oft geschieht und der Grund ist, warum das Konzept des Mitgefühls missverstanden und nicht gelebt wird, ist der, dass viele meinen, Mitgefühl und Liebe geben, sei gleichbedeutend mit Billigung und Zustimmung. Wenn wir mitfühlen, lieben, vergeben stimmen wir nicht! den Handlungen und Einstellungen dieser Person zu. Hier vermischen sich moralische Konzepte mit der Idee: Wir Lebewesen sind alle gleich. Wir wollen alle glücklich und frei sein von Leid. Darin besteht unsere umfassende Verbindung - der größte gemeinsame Nenner - die nicht urteilt in gutes und schlechtes Verhalten. Diese Sichtweise anzunehmen oder wenigstens einmal "anzuprobieren", bedeutet, dass man über seinen eigenen Schatten springen, über all die selbst gelegten Grenzen hindurchgehen muss.

 

Der Dalai Lama und sein tibetisches Volk haben viel Leid erlebt. Durch die Politik Chinas wurden sie aus ihrem Land vertrieben, viele Tibeter wurden dabei getötet und sind bis heute Vertriebene. Es gäbe also viele rationale Gründe „zurückzuhassen“ und Vergeltung üben zu wollen. Wenn der Dalai Lama jedoch morgens aufwacht, ist seine erste Tat, die Meditation der liebenden Güte (meditation of loving kindness) den Menschen zu widmen, die ihm und allen Tibetern dieses Leid zugefügt haben.

 

Dr. Alex Loyd bezeichnet den Zustand der allumfassenden, nicht ausschließenden Liebe als das Leben nach dem „Gesetz des Inneren“. Dann „sind wir in der Lage, unseren persönlichen Vorteil und das Eigeninteresse für einen höheren Zweck zurückzustellen, wenn Leib und Leben nicht in Gefahr sind. … Dann führen wir unser Leben also in Übereinstimmung mit dem Gesetz des Inneren, das uns Entscheidungen treffen lässt, die unserem Inneren entsprechen und nicht den äußeren Umständen. Das Gesetz des Inneren führt uns zu einem inneren Zustand der Liebe im Gegensatz zu dem der Angst. … Folgen wir dem Gesetz des Inneren, stellen wir unsere Bedürfnisse nicht mehr über die der anderen, unser Genuss oder die Vermeidung von Schmerz sind nicht mehr so wichtig wie unter dem Gesetz des Äußeren. Stattdessen erfreuen wir uns daran, etwas für das Gemeinwohl zu tun. Das Leitmotiv ist Liebe.“

 

Um diesen Zustand zu erreichen, muss man ein sehr waches Bewusstsein haben, achtsam sein für die eigenen inneren Regungen. Oft sind wir nämlich geprägt vom „Gesetz des Äußeren“. Unsere Unsicherheiten und Ängste diktieren das. Wir haben das Gefühl, unsere Existenz sei bedroht, wenn jemand anderes mehr bekommt als wir selbst, wenn Gerechtigkeit scheinbar nicht stattfindet und wir uns dadurch als Opfer und benachteiligt fühlen. Unsere Ängste erzählen uns ständig Geschichten größter Bedrohung und sagen, was sein darf und was nicht. In diesem Zustand bewerten wir ohne Ende und genauso endlos ist unsere Stressreaktion darauf.

Wenn wir alle miteinander verbunden sind, geben wir entweder Angst und Stress weiter - oder aber Liebe und Mitgefühl. Damit  können wir die Welt verändern! Gut zunächst unser direktes Umfeld. Wenn ich mich mitfühlend und liebevoll verhalte, bekommt das mein Umfeld mit und wird sich anders verhalten, anders reagieren. Mitgefühl ist der Ausschaltknopf für Aggression, ganz nach dem Motto „Stell dir vor, es wäre Krieg und keiner geht hin.“ Wie ein Stein, den man in einen See wirft und Wellenringe entstehen lässt – erst kleinere, dann immer größere – setzt sich friedvolles, mitfühlendes, liebevolles Verhalten fort, sodass nicht nur das eigene Umfeld beeinflusst wird, sondern auch dessen Umfeld und wiederum dessen Umfeld und...

 

Mitgefühl ist auch Großzügigkeit. Nach der buddhistischen Lehre werden wir so lange wiedergeboren (auf Sanskrit: samsara), bis wir genügend Erkenntnisse gesammelt und Anhaftungen losgelassen haben, dass wir erleuchten und nicht mehr wiedergeboren werden. Denn die Wiedergeburt ist gleichbedeutend mit Leid – ein erstrebenswertes Ziel also, nicht wiedergeboren und wieder leiden zu müssen. Die höchste Tugend eines Bodhisattvas, eines Erleuchteten, aber ist, dennoch „wiederzukommen“. Und zwar so lange, bis alle Lebewesen frei von Leid und erfüllt von Glück, bis also alle Lebewesen erleuchtet sind. Das ist wahrhaft großzügig. Da stellen also Menschen ihren Austritt aus dem Wiedergeburten-/Leidenskreislauf zurück, um den anderen zu helfen, die noch nicht so weit sind. Und wir schaffen es oft nicht einmal im Alltag in kleinen Dingen diese Großzügigkeit, dieses Mitgefühl walten zu lassen - an der Kasse, im Straßenverkehr, in Konflikten, in der Kommunikation mit anderen.

 

Oder vielleicht doch? Jeden Tag ein bisschen mehr? Weniger Angst (Ich), mehr Liebe (Wir)?

 

Eine wunderbare Inspiration für Mitgefühl und das "Gesetz des Inneren" ist dieses Gebet von Shantideva, das der Dalai Lama täglich mehrmals, manchmal hundertmal spricht:

 

For as long as space endures

And for as long as living beings remain,

Until then may I too abide

To dispel the misery of the world.“

 

Oder auf Deutsch:

 

Solange der unermessliche Raum Bestand hat
und solange noch empfindende Wesen existieren,
möge auch ich ausharren,
um das Elend der Welt zu verringern.“

 

 

Quellen

Alex Loyd, „Innere Heilung“

Dalai Lama, „Inner World“ (CD, erhältlich ab 28. August 2020: Hier spricht der Dalai Lama dieses und andere Gebete und Mantren)

Shantideva, „Eintritt in den Weg zum Erwachen“